„Die Pflegereform wird am System nichts ändern“
Text: Michael Thomsen
Kommt die Altenpflege durch den Pflegebedürftigkeitsbegriff endlich voran? Der Osnabrücker Pflegeexperte Michael Thomsen zieht ein ernüchterndes Fazit.
Die Reform der Pflegeversicherung (Zweites Pflegestärkungsgesetz, kurz PSG II) ist am 1. Januar 2017 gestartet. Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der sich nun in fünf Pflegegraden ausdrückt, wird lediglich eine Neueinteilung vorgenommen; bei einer Begutachtung
werden kognitive Defizite besser gewürdigt. Aber dadurch allein erhält kein Betroffener mehr Zuwendung!
Um es deutlich zu sagen: Der nichtkundigen Öffentlichkeit wird suggeriert, dass insbesondere demenzkranke Menschen künftig besser versorgt und betreut werden – mit mehr zeitlichen Ressourcen und einem höheren personellen Aufwand. Doch das ist nicht der Fall!
Mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff erhält kein Betroffener mehr Zuwendung. Oder haben Sie davon gehört, dass die Heime und ambulanten Dienste zum Jahreswechsel mehr Personal eingestellt haben?
Meine Prophezeiung lautet daher: Unter‘m Strich bleibt alles, wie es ist. Denn was niemand verrät ist, dass die für die personelle Besetzung zuständigen Institutionen, die sogenannten Pflegeselbstverwaltungen, die Personalschlüssel „kostenneutral“ so festlegen, dass die Pflegesätze gedeckt sind. Es wird also nicht mehr Personal pflegen, sondern genauso viel wie vorher.
Dabei kommt den Heimen in der Überleitungsphase von 2017 bis 2018 die recht großzügige Regelung des Bestandsschutzes zugute. So wird in den ersten beiden Jahren mehr Geld in die Kassen gespült als danach, wenn es nur noch neu eingestufte Bewohner geben wird. Ab 2019 werden die Heime Mühe haben, Plätze speziell mit niedrigen Pflegegraden zu besetzen.
Zudem wird die Höherstufung deutlich schwerer. Am ehesten ist noch zu erwarten, dass das PSG II zu Verbesserungen in der ambulanten Pflege führen wird, denn hierhin fließt das meiste Geld. Erhöhungen des Pflegegeldes, der Sachleistungsangebote, speziell auch der Tagespflege, sowie die Forcierung der Wohngemeinschaften sind hier die wohl deutlichsten Verbesserungen. Gerade durch die Überleitung und den Bestandsschutz erhalten insbesondere Menschen mit Demenz mehr Leistungen. Während beispielsweise ein Pflegebedürftiger vom Pflegedienst bisher nur ein Mal am Tag versorgt werden konnte und noch etwas zuzahlen musste, kann er ab 2017 vielleicht zwei Mal am Tag besucht werden oder seine Zuzahlung fällt geringer aus.
Die neuen ambulanten Versorgungsangebote binden deutlich mehr Personal, das aber angesichts des Fachkräftemangels nur aus der Laienpflege und dem Ehrenamt hinreichend gespeist werden kann. Das kommt einer Abwertung der professionellen Pflege gleich, deren Bedeutung aber wieder wachsen wird, da es immer weniger Menschen geben wird, die als Angehörige oder Laien zur Verfügung stehen.
Das bedeutet auch, dass die Qualität der Betreuungsleistungen zweifelsohne sinken wird.
Meines Erachtens wird die Pflegereform nicht – wie erhofft – zu einer besseren Versorgung der Bewohner führen. Das ist bitter, denn viele Menschen haben vor Heimen einen Horror. Kein Wunder, denn die personelle Besetzung in den meisten Pflegeeinrichtungen ist zweifelsohne eine Katastrophe!
Nur ein Beispiel: Im Heim kommen im Nachtdienst bundesdurchschnittlich auf eine Pflegekraft 52 Bewohner, im Tagdienst versorgt ein Pflegender durchschnittlich zwölf bis 13 Bewohner. Da kann einem schon bange werden! Die Anonymität der Institution Pflegeheim ist hier nicht das Hauptproblem.
Denn die meisten Einrichtungen bieten durchaus eine wohnliche und persönliche Atmosphäre.
Problematisch ist eher, dass viele Heime „kopflos“ arbeiten, an den Bedürfnissen der alten Menschen vorbei. Leider sind die Heime gut belegt und immer noch stark nachgefragt. Das hat den Nebeneffekt, dass die Führungen der Heime keinerlei Druck verspüren, ihre Konzepte und Organisationsstrukturen zu überdenken.
Die Führungen in den Heimen müssten eigentlich transparent machen, dass es deutlich mehr Personal braucht, um eine menschenwürdige Pflege zu gewährleisten. Dieser Aufgabe kommen sie aber gar nicht nach. Häufig fehlt ihnen die fachliche, rhetorische und politische Kompetenz; sie müssten viel stärker an die Öffentlichkeit gehen und ihre Interessen gebündelt gegenüber der Politik vertreten.
Stattdessen lassen aber die Verantwortlichen alles beim Alten, und sie lassen die Pflegemitarbeiter den Mangel ausbaden und üben Druck nach unten aus. Am Ende der Kette erleben dann die Pflegebedürftigen den Horror, der auch über die Skandalberichterstattung der Medien befeuert wird.
Und noch mal: Die Pflegereform wird am System nichts ändern. Im Gegenteil! Mittlerweile hat die Berufsflucht der Pflegenden dramatische Auswirkungen angenommen. Wer will schon bis 67 Jahren der Prellbock sein und am Ende noch für alle möglichen Missstände mitverantwortlich gemacht werden?
Den Heimen fällt es schon jetzt schwer, freie Stellen zu besetzen. Die Gründe sind klar ersichtlich. Es gibt kein Erkenntnisproblem, sondern es fehlt an politischem Willen, zumal meist andere Berufsgruppen als die der Pflege hier Einfluss nehmen.
Michael Thomsen ist Altenpflege-Experte aus Osnabrück und einer der Initiatoren der Protestbewegung „Pflege am Boden“

„Zu jeder Wohnung gehört eine kleine Küche“