„Wir sind jetzt so weit, uns einzumischen“
Text: Sandra Mehmecke
Foto: Privat
Die Pflegenden benötigen ein eigenes Selbstverwaltungsorgan, um Einfluss zu nehmen auf die gesundheitspolitischen Entscheidungen und die pflegerische Versorgung der Bevölkerung, um die Berufsrechte der Pflegenden zu wahren, zu verbessern und das Ansehen des Berufsstands zu fördern. Ein Mitspracherecht, das der Profession Pflege bislang fehlte.
Die Entstehung der Pflegekammer Niedersachsen war ein langjähriger Prozess. Die Pflegekammer entstand nicht von heute auf morgen. Es ist eine Geschichte vom Hinfallen und Wiederaufstehen. Aber auch eine Geschichte der breiten Unterstützung von unglaublich
vielen engagierten Pflegenden. Das macht bis heute Mut, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Die Entstehung fügt sich ein in die Entwicklung einer
dringend notwendigen Professionalisierung der Pflege. In vielen Ländern Europas und weltweit wurden Pflegekammern schon vor über 100 Jahren Realität. Sie waren und sind Ausdruck einer starken Autonomiebewegung der Pflegefachpersonen für eine sichere, menschenwürdige und verlässliche Pflege. In Niedersachsen kämpfen aktive Pflegekräfte, Berufsverbände und Fördervereine seit mehr als 20 Jahren für die berufliche Selbstverwaltung.
Mit der konstituierenden Sitzung der ersten gewählten Kammerversammlung 2018 begann die inhaltliche Arbeit der Pflegekammer Niedersachsen.
Die Pflegekammer eröffnet den Pflegefachpersonen erstmals die Chance, langfristig die Inhalte guter Pflege in eigener Verantwortung selbst zu definieren. Eine Entwicklung, von der auch die Bevölkerung nachhaltig profitieren wird. Bisher leidet das Gesundheitssystem an einer jahrzehntelangen Fehlentwicklung der deutschen Pflege- und Gesundheitspolitik. Pflegefachpersonen haben stets die zahlreichen Einsparungen in der pflegerischen Versorgung aufgefangen: auf Kosten der eigenen Familie, Gesundheit und Freizeit. Der aktuelle Fachkräftemangel zeigt deutlich, dass das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Die Pflegenden sind am Limit. Sie können und wollen nicht länger die Folgen der verfehlten Gesundheitspolitik tragen.
Das deutsche Gesundheitssystem ist komplex. Staat und Länder müssen die medizinische und pflegerische Versorgung der Bevölkerung sicherstellen. Die Organisation dafür verantworten Ärzteschaft, Krankenkassen und Krankenhäuser. Diese stellen durch die Selbstverwaltung die medizinische Versorgung der Allgemeinheit sicher. Darin liegt aber auch genau das Problem: Die Politik selbst hat nur wenige direkte Einflussmöglichkeiten. Die Selbstverwaltungspartner handeln unter sich aus, wer welchen Teil vom Kuchen bekommt. Da die Pflege bisher nicht mit am Tisch saß, wurden Ansprüche der Pflegefachpersonen bei der Verteilung des Kuchens wenig bis gar nicht berücksichtigt. Mit der Errichtung der Pflegekammer Niedersachsen als ein weiteres Selbstverwaltungsorgan im Gesundheitswesen wird sich das ändern. Die Pflege muss gehört werden. Wir sind jetzt soweit, uns einzumischen.
Neben der Selbstverwaltungsfunktion hat die Pflegekammer insbesondere die Aufgabe, die professionelle Pflege der Bevölkerung in Niedersachsen sicherzustellen. Das Etablieren von Berufsrechten und -pflichten mittels einer Berufsordnung schützt damit auch direkt die Pflegebedürftigen im Land. Die Kammer macht in Stellungnahmen und Berichten auf finanzielle und personelle Missstände aufmerksam. Nur so können Politik und Tarifparteien darauf reagieren. Letztendlich gilt es, in den nächsten Jahren immer mehr Menschen pflegerisch auf hohem Niveau zu versorgen. Die Pflegekammer
Niedersachsen ist dabei, einen umfassenden Überblick über die Arbeitssituation der professionell Pflegenden im Bundesland Niedersachsen zu gewinnen. Das Projekt „Versorgungsrealität“ soll z. B. anhand kurz- und langfristiger Erhebungen ein wirklichkeitsnahes Bild der Pflege in Niedersachsen vermitteln. Es soll zum einen verbesserungswürdige strukturelle Rahmenbedingungen in allen Fachbereichen der professionellen Pflege aufzeigen, zum anderen die positiven Aspekte des Pflegeberufs sowie die Ressourcen der Pflegefachpersonen hervorheben.
Bereits Ende 2018 hat die Pflegekammer einen umfassenden Bericht zur Lage der Pflegefachberufe in Niedersachsen veröffentlicht. Er gibt einen detaillierten Überblick über regionale und demografische Entwicklungen bis hinein in die einzelnen Landkreise Niedersachsens. Der Bericht stellt erstmals valide Zahlen, Daten und Fakten zur Situation der Pflegefachberufe in Niedersachsen aus einer Vollerhebung zur Verfügung. Grundlage des Berichts bildet die Registrierung der Pflegefachpersonen in der Pflegekammer Niedersachsen. Schon heute sind fast 40 % der Pflegefachpersonen 50
Jahre und älter. Nach Berechnungen der Pflegekammer werden in den nächsten 15 Jahren bis zu 43 % der aktuell tätigen Pflegefachpersonen den Beruf verlassen. Dass die Situation auch heute schon teils dramatisch ist, zeigen die zahlreichen Berichte ambulanter Pflegedienste. Diese müssen wegen Personalmangel regelmäßig Anfragen von Pflegebedürftigen und ihren Familien ablehnen. Solide Daten, die den tatsächlichen Bedarf an professionellen Pflegeleistungen aufzeigen, fehlen allerdings. Die Pflegekammer setzt sich deshalb für eine fundierte Erhebung zum Pflegebedarf in den einzelnen
Regionen Niedersachsens ein.
Schon kurz nach der Konstituierung der ersten Kammerversammlung wurde die Pflegekammer in wichtige Landesgremien eingeladen. Die Meinung der Kammer ist gefragt, und sie nimmt aktiv Einfluss auf die Gestaltung des Gesundheitswesens und damit auch auf die Versorgung der Bevölkerung. Die Kammer kann so maßgeblich an den gesundheitspolitischen Entscheidungen in Niedersachsen mitwirken, zum Beispiel im Landespflegeausschuss, dem Gemeinsamen Landesgremium nach § 90a SGB V oder der Enquetekommission zur „Sicherstellung der ambulanten und stationären Versorgung in Niedersachsen“. Gemeinsam mit den Landespflegekammern Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ist die Pflegekammer Niedersachsen Mitglied
des Dachgremiums der Konzertierten Aktion Pflege. Wichtig ist es, der Politik deutlich zu sagen, was die Pflege braucht.
Als bundesweit erste Landespflegekammer hat die Pflegekammer Niedersachsen eine Ethikkommission eingerichtet. Die Ethikkommission kann eine Orientierung in ethischen Fragestellungen geben, wenn die Pflege eines Menschen z. B. in Grenzbereiche führt und Sinnhaftigkeit und Nutzen pflegerischer Maßnahmen unterschiedlich bewertet werden. Sie gibt Stellungnahmen in Form von Empfehlungen und Richtlinien ab. Mit der Ethikkommission leistet die Pflegekammer einen entscheidenden Schritt hin zur besonderen Betrachtung berufsethischer Fragestellungen der Pflege. Mitglieder der Pflegekammer Niedersachsen, aber auch Betroffene können sich bei spezifischen Fragestellungen an die Ethikkommission wenden.
Nach dem Niedersächsischen Kammergesetz über die Heilberufe in der Pflege ist die Pflegekammer Niedersachsen aufgefordert, eine Berufsordnung zu erstellen. Eine Berufsordnung soll die Qualität der beruflichen Tätigkeit sicherstellen und das Ansehen des Berufsstands fördern. Sie kann ausformulieren, welche Aufgaben Pflegefachpersonen vorbehalten sind. Sie setzt damit einen Gegenpart, wenn seitens der Kostenträger pflegefachliche
Leistungen nicht vergütet werden sollen. Die Berufsordnung wird der Leitfaden sein, um mit Kranken- und Pflegekassen sowie Arbeitgebern darüber zu
streiten, wie der Pflegeberuf künftig auszuüben ist. Seit Ende 2018 fanden in zahlreichen Orten Niedersachsens Regionalkonferenzen zur Erarbeitung der Berufsordnung statt.
Das Land Niedersachsen hat der Pflegekammer 2019 vollumfänglich die gesetzliche Verantwortung für die Weiterbildung in den Pflegefachberufen übertragen. Eine Übergangsweiterbildungsordnung ermöglicht einen nahtlosen Übergang von den bisherigen Landesregelungen hin zur Zuständigkeit der Pflegekammer. Sie beinhaltet sowohl bekannte gesetzliche Regelungen des derzeit bestehenden Niedersächsischen Gesundheitsfachberufegesetzes als auch von der Pflegekammer eingebrachte Änderungen, die qualitätssteigernd wirken sollen. Langfristig wird der Ausschuss Weiterbildung eine inhaltlich, strukturell und pädagogisch gänzlich neue Weiterbildungsordnung für die Pflegefachberufe in Niedersachsen erarbeiten. Dabei hat die Pflegekammer neben den Erfordernissen für den Bildungsbedarf der Pflege in Niedersachsen immer auch die Entwicklung in den anderen Bundesländern, in denen Pflegekammern etabliert sind, im Blick, um einfache Übergänge zwischen den Ländern zu ermöglichen.
Mit der Veröffentlichung von Stellungnahmen zu pflegerelevanten Themen nimmt die Pflegekammer regelmäßig Einfluss auf die öffentliche Debatte. So lehnt sie die unbegleitete Behandlungspflege durch ungelernte Kräfte in der häuslichen Krankenpflege strikt ab. Im Jahr 2018 hatten sich die Kostenträger und Leistungserbringer in Niedersachen dafür ausgesprochen, dass Angestellte ohne geregelte Qualifikation u. a. die Medikamentengabe,
Inhalationen oder das Anziehen von Kompressionsstrümpfen eigenständig erbringen können. Doch diese Regelung gefährdet die Sicherheit der
Patientinnen und Patienten. Zudem kritisiert die Pflegekammer eine Verordnung des Landes Niedersachsen, die ein Aufweichen der 50 %-Fachkraftquote in Pflegeheimen befürchten lässt, denn erstklassige Pflege braucht ein Mindestmaß an gut ausgebildeten Pflegefachpersonen.
Sandra Mehmecke ist Präsidentin der Pflegekammer Niedersachsen
sekretariat@pflegekammer-nds.de