„Pflegegewerkschaft? Ganz klar ja!“
Interview: Dr. Stephan Balling
Foto: © Pflegebevollmächtigter, Fotograf Holger Gross
Der Präsident des Deutschen Pflegerates Andreas Westerfellhaus spricht sich im Interview für eine Pflegegewerkschaft und eine Solidarisierung der Pflege mit den Ärzten und anderen Berufsgruppen im Krankenhaus aus.
Herr Westerfellhaus, die Legislaturperiode neigt sich dem Ende, im September ist Bundestagswahl. Welche Note geben Sie der schwarz-roten Koalition für ihre Pflegepolitik?
Da muss man differenzieren. Erstens: Ich habe mit Hermann Gröhe (CDU) in den zurückliegenden dreieinhalb Jahren einen Gesundheitsminister erlebt, der sich in einer völlig neuen Art und Weise dem Thema Pflege gewidmet hat. Der Minister hat zugehört und unsere Anliegen ernst genommen. Das war ein Paradigmenwechsel im Vergleich zu früheren Gesundheitsministern. Zweitens: Für die Empfänger von Pflegeleistungen hat sich immens viel getan aufgrund der drei Pflegestärkungsgesetze. Demenziell Erkrankte sind nun gleichwertig in die Pflegeversicherung einbezogen, und es gibt einen Paradigmenwechsel weg von der rein defizitorientierten Pflege. Drittens gilt aber, dass man die Pflegepolitik auch mit Blick auf diejenigen beurteilen muss, die ihr ganzes Leben in der Pflege tätig sind, von der Versorgung von Kleinstkindern über die Tätigkeit in Krankenhäusern bis hin zur Altenpflege. Für die Krankenhäuser hat der Minister eine Expertenkommission eingesetzt und dabei auch die Expertise der Pflege selbst mit einbezogen. Ich finde das richtig. Was bisher in diesem Bereich getan wurde, etwa mit dem Krankenhausstrukturgesetz, ist in keinster Weise zufriedenstellend.
Inwiefern?
Die Mittel etwa aus dem Pflegestellenförderprogramm reichen nicht mal im Ansatz, um die Situation auf den Stationen zu verbessern. Außerdem ist nicht sichergestellt, dass die Gelder überhaupt in der Pflege ankommen. Wir sehen derzeit, dass sich die pflegerische Situation in den Krankenhäusern eher verschlechtert als verbessert.
Das heißt, für die Haltung des Ministers gegenüber der Pflege und für die Pflegereform mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff geben Sie jeweils eine Eins und für die Krankenhausreform eine Fünf?
Ja. Letzteres geht aber über die Krankenhäuser hinaus. Ich vermisse jeglichen Ansatz, um die Profession der Pflege aufzuwerten und attraktiver zu machen. Allein für die Umsetzung der Pflegereform wären zusätzliche 30 000 Pflegekräfte notwendig. Auf den Personalmangel hat die Regierung keine Antwort.
Der Pflegebeauftragte Karl-Josef Laumann (CDU) sagt, dass er mit der Pflegereform gerade für die unteren Pflegegrade auf den größten Pflegedienst der Republik setzt, nämlich die Familie. Entsprechend seien die Leistungen für die ambulante Pflege zu Hause deutlich erhöht worden. Überzeugt Sie das?
Es ist sicher richtig, auch die pflegenden Angehörigen zu stärken. Aber wenn das Ziel lautet, dass sich der gesundheitliche Zustand von Pflegebedürftigen nicht weiter verschlechtert oder vielleicht sogar wieder bessert, dann ist dafür eben auch eine professionelle Pflege notwendig in Ergänzung der Angehörigen und der Ehrenamtlichen. Wir sollten den ambulanten und den stationären Bereich nicht gegeneinander ausspielen. Wir benötigen beides und für beides jeweils qualifizierte Fachkräfte.
Wird sich durch die Pflegereform mit der Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs irgendetwas für die Pflegefachkräfte auf den Stationen verbessern in puncto Arbeitsbedingungen?
Nein. Alleine durch die Reform ändert sich nichts. Sicher, künftig müssen die Heimbetreiber nachweisen, dass sie Fachkraftquoten erfüllen und dass sie ihre Mitarbeiter auch wirklich nach Tarif bezahlen, wenn sie die Tariflöhne in den Verhandlungen mit den Pflegekassen geltend machen. Das sind aber alles theoretische Vorgaben. Es gibt schlicht nicht ausreichend Fachpersonal um diese Vorgaben in der Praxis zu erfüllen.
Was würde helfen?
Das einzige, was hilft, sind feste Personalschlüssel. Und dann stellt sich die Frage, wie man entsprechend Personal gewinnt.
Herr Laumann ist der Meinung, das Einzige, was hilft, um die Situation der Pflegefachkräfte zu verbessern, sind starke Gewerkschaften. Die seien sogar wichtiger als Pflegekammern und Berufsverbände. Was sagen Sie dazu?
So habe ich Herrn Laumann nicht verstanden. Er hat lediglich gesagt, dass Pflegekammern allein das Problem nicht lösen können, und das ist auch richtig. Auf das Betreiben von Herrn Laumann hin hat die CDU in ihr Wahlprogramm für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen im Mai die Gründung einer Pflegekammer als Ziel definiert. Der Pflegebeauftragte bekennt sich auch zu einer Bundespflegekammer. Gewerkschaften und Pflegekammern täten gut daran, gemeinsam zu agieren.
Braucht Deutschland eine Pflegegewerkschaft?
Ganz klar ja! Die große Gewerkschaft, die immer behauptet für den öffentlichen Dienst und die Pflege einzutreten, hat in den zurückliegenden Jahrzehnten mehr als dürftige Erfolge erzielt.
Sie sprechen von Verdi.
Von dieser Gewerkschaft kommen immer neue Aussagen, was Kammern und Berufsverbände alles nicht können, anstatt zu fragen, was wir für die Arbeitsbedingungen in der Pflege gemeinsam leisten können. Wenn eine Gewerkschaft es nicht schafft, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, dann muss die Berufsgruppe eben ihre eigene Antwort finden. Das haben uns andere Berufsgruppen vorgemacht, ich denke an die Ärzte. Allerdings bin ich der Meinung, dass der Aufbau einer Pflegegewerkschaft in vorhandenen Strukturen erfolgen sollte.
Soll eine solche Gründung aus den Berufsverbänden entstehen?
Berufsverbände haben andere Aufgaben. Sicher, ein solcher Weg wäre denkbar, aber bisher sehe ich nicht, dass ein Berufsverband diesen Weg gehen will. Eine Pflegegewerkschaft kann auch aus der Profession selbst heraus entstehen. Pflegekammern sind auch aus der Profession heraus entstanden, zwar mit Unterstützung der Berufsverbände, aber nicht aus einem einzelnen Berufsverband heraus. Ich höre, dass der Ruf in der Pflege nach einer Gewerkschaft lauter wird. Wir müssen jetzt einmal abwarten, wie das Bundesverfassungsgericht in punkto Tarifeinheitsgesetz entscheidet.
Das Gesetz sieht vor, dass pro Betrieb nur eine Gewerkschaft das Sagen hat, was allerdings möglicherweise nicht grundgesetzkonform ist. Was wäre die Folge für eine mögliche Pflegegewerkschaft, wenn das Gesetz in Karlsruhe besteht?
Es gibt für uns durchaus Optionen, auch mit anderen Berufsgruppen einen gemeinsamen Weg zu gehen.
Sie sprechen von der Ärztegewerkschaft Marburger Bund?
Jedenfalls spreche ich nicht von der Pilotengewerkschaft oder den Eisenbahnern. Im Ernst: Die Frage lautet doch, ob es nicht Sinn macht, mit anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen gemeinsam aufzutreten. Ich bin dafür, dass die unterschiedlichen Berufsgruppen im Gesundheitswesen sich stärker untereinander solidarisieren. Ärzte, Pflegende und andere Berufe sind die Leistungsträger in den Krankenhäusern. Warum sollten sich diese Berufe nicht viel stärker solidarisieren auch in einer gemeinsamen gewerkschaftlichen Vertretung? Mehr von uns sind besser.
Sprechen Sie schon mit dem Vorsitzenden des Marburger Bundes, Rudolf Henke?
Ich spreche immer mit Herrn Henke, und ich freue mich, dass Herr Henke sich bereits vergangenes Jahr deutlich positioniert hat, was das Pflegeberufegesetz betrifft. Er sagte ganz klar, dass die Ärzte sich dabei raushalten sollten. Der Vorsitzende des Marburger Bundes hat erkannt, dass die Pflege neben den Ärzten ein entscheidender Akteur ist und dass man dieser Profession ihre Eigenständigkeit und Autonomie gewähren muss. Der Marburger Bund hört uns mehr zu als Verdi. Herr Henke wird sich möglicherweise auch Gedanken machen über die Frage, wie wir gemeinsam auftreten können. Das heißt nun nicht, dass Herr Henke und ich nun beschlossen hätten, übermorgen im Marburger Bund eine Pflegegewerkschaft zu gründen. Ich kann Ihnen aber sicher sagen, dass ich immer mehr E-Mails bekomme mit der Frage, warum die Pflege nicht stärker auf den Marburger Bund zugeht.
Wie wichtig ist das Pflegeberufegesetz für die Pflege mit der Reform in Richtung einer generalistischen Ausbildung?
Der Übergang zu einer generalistischen Ausbildung ist existenziell wichtig. Ohne die Generalistik wird es keine Weiterentwicklung des Berufs geben. Pflege braucht mehr Autonomie, mehr Eigenständigkeit. Dafür benötigt sie eine andere Ausbildung. Die entscheidende Frage lautet doch: Wie stellen wir eine qualitativ hochwertige Versorgung sicher? Qualität braucht Qualifizierung. Es gibt keinen anderen Bereich im Gesundheitswesen, in dem nicht generalistisch ausgebildet wird.
Höhere Qualifikation – das bedeutet, dass die Ausbildung schwieriger wird, gerade auch in puncto theoretischer Anforderungen.
Das verkürzt die Debatte. Wir benötigen ein umfassendes Bildungskonzept. Zu dem gehört dann auch eine bundesweit einheitliche zweijährige Assistentenqualifikation. Dazu die dreijährige generalistische Ausbildung mit einem akademischen Bildungsangebot für die, die das wollen und können. Es geht um einen neuen Qualifizierungsweg, der aus der Pflege heraus gestaltet wird und nicht von anderen bestimmt wird, auch nicht von Arbeitgebern.
Was erhoffen Sie sich von dieser Bundesregierung bis zur Wahl im September noch?
Ich wünsche mir natürlich, dass die Politik zügig Maßnahmen ergreift, um die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern. Ich bin aber auch Realist. Und das weiß ich, dass nun der Wahlkampf begonnen hat und von dieser Koalition nicht mehr allzu viel zu erwarten ist. Ein wichtiger Hinweis: Pflege hat die Wahl. Die Pflegekräfte haben mehr Einfluss, als sie glauben. Sie können beispielsweise nur noch den Parteien ihre Stimme geben, die glaubhaft und verlässlich etwas für die Pflege tun, in der Altenpflege und in den Krankenhäusern. Mein Plädoyer an die nächste Regierung lautet, sich die pflegerische Kompetenz in die Regierung zu holen.
Nach acht Jahren endet im September Ihre Amtszeit als Präsident des Deutschen Pflegerates. Wie blicken Sie auf diese Zeit zurück?
Ich gehe mit Hoffnungen, aber auch mit Sorgen. Es ist nicht einfach, von Bord zu gehen. Die Pflege muss erkennen, dass sie eine organisierte Vertretung benötigt. Deshalb brauchen wir die Bundespflegekammer. Als Pflegerat fehlt uns die Infrastruktur, mit aller Macht die Interessen der Pflege durchzusetzen.
Andreas Westerfellhaus ist Präsident des Deutschen Pflegerates und Initiator des Deutschen Pflegetages