Gemeinsam wachsen
Text: Nadine Millich
Foto: Getty Images / jacoblund
Immer mehr Anbieter setzen auf interprofessionelles Lernen. Die Erfahrungen der Hochschulen und Bildungseinrichtungen sind dabei durchweg positiv.
Arbeiten Pflegende, Mediziner und andere Professionen im Gesundheitssektor Hand in Hand, verbessert sich die Patientenversorgung. Gleichzeitig sinken dadurch Krankenhausverweildauern und klinische Fehlerraten. Das geht aus einem Bericht der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2010 hervor. Außerdem kommt es zu weniger Konflikten im Team. Angesichts dieser Aussagen macht es also durchaus Sinn, das interprofessionelle Zusammenspiel schon früh zu lernen – am besten vor Beginn der beruflichen Laufbahn.
Das dachte sich auch Dr. Cornelia Mahler vom Universitätsklinikum Heidelberg, als sie den ausbildungsintegrierenden Bachelorstudiengang „Interprofessionelle Gesundheitsversorgung“ zum Wintersemester 2011/2012 einrichtete. Der achtsemestrige Studiengang wurde an der Medizinischen Fakultät in Kooperation mit der Akademie für Gesundheitsberufe Heidelberg und dem Uniklinikum entwickelt. Pro Jahr werden mittlerweile 40 Studierende aufgenommen, anfangs waren es 25. Zugangsvoraussetzung sind die allgemeine Hochschulreife und ein Ausbildungsplatz an der Akademie für Gesundheitsberufe für einen der Bereiche Altenpflege, Gesundheits- und Krankenpflege, Gesundheits- und Kinderkrankenpflege, Hebammenwesen, Logopädie, Medizinische-Technische Laboratoriumsoder Medizinisch-Technische Radiologieassistenz, Orthoptik oder Physiotherapie oder an der Physiotherapieschule der Universitätsmedizin Mannheim. Nach vier Jahren haben die Teilnehmer dann sowohl einen staatlich anerkannten Berufs- als
auch einen Hochschulabschluss erworben.
„Das zuvor Erlernte stimmte nicht mehr mit dem tatsächlichen Bedarf überein“, begründet Mahler den Schritt. „Unsere Ausbildungen bewegten sich in monoprofessionellen Silos, ohne eine strukturierte Begegnung mit anderen Gesundheitsberufen“,
sagt sie.
In dem in Heidelberg konzipierten Studiengang ist das nun anders. Von Beginn an lernen hier Schüler und Studierende der Gesundheitsberufe zusammen, in einigen Lehrveranstaltungen mit Studierenden der Humanmedizin. So finden gemeinsam etwa Seminare zu Team- und Fehlerkommunikation, Patientensicherheit oder ein Praktikum auf einer Palliativstation statt.
„Die Studierenden erleben die gemeinsamen Lehrveranstaltungen als sehr positiv und anregend“, weiß Mahler. Außerdem könnten sie im späteren Berufsalltag viel besser mit Kollegen anderer Professionen zusammenarbeiten. Das koordinierte Zusammenwirken werde selbstverständlicher und effektiver, je früher es bereits in der Ausbildung thematisiert und eingeübt werde. „Wie sollten junge Menschen auch gut zusammenarbeiten können, wenn sie das zuvor nie gelernt haben?“, betont die Studiengangskoordinatorin.
Darüber hinaus seien die interprofessionellen Lerneinheiten nicht als Selbstzweck für gute Teamarbeit gedacht. Vielmehr profitierten von diesem Ansatz
auch Patienten, wie mehrere Studien belegten. „Interprofessionelle Zusammenarbeit ist also nicht nur eine Chance, sondern inzwischen sogar ein Muss“, ist sich die Pflege- und Gesundheitswissenschaftlerin sicher.
Seit drei Jahren können auch künftige Pflegende in Lübeck gemeinsam mit anderen Gesundheitsprofessionen an einer Medizinischen Universität studieren. „Das Angebot stößt auf hohe Resonanz“, betont Prof. Dr. Katrin Balzer von der Uni Lübeck. Im vergangenen Jahr habe es sogar deutlich mehr Bewerber als Studienplätze für den Bachelorstudiengang Pflege gegeben. Auf 40 Plätze kamen rund 100 Bewerbungen.
Etwa ein Viertel der Lehrveranstaltungen in diesem Studiengang ist interprofessionell ausgerichtet. Das Spektrum reicht von Medizinvorlesungen, die von den Pflegestudierenden mitbesucht werden, bis hin zu Seminaren oder Übungen, die zusammen etwa mit Studierenden der Hebammenwissenschaften, Medizin oder Physiotherapie erfolgen. Der Anteil der interprofessionell konzipierten Einheiten steige stetig weiter an, sagt Balzer. Ein Grund dafür seien die positiven Evaluationsergebnisse, die belegten, dass die Studierenden das Angebot als bereichernd wahrnehmen.
„Es ist nahezu selbsterklärend, dass gleichermaßen erforderliche Kompetenzen für das gleiche Ziel auch gemeinsam an einem Ort vermittelt und erworben werden“, betont Balzer. Mittlerweile gebe es mehrere Pflegestudiengänge, die zunehmend interprofessionell ausgerichtete Lerneinheiten umfassten. „Künftig wird das sicherlich kein Alleinstellungsmerkmal mehr sein. Ausschlaggebend wird vielmehr die Qualität dieses Angebots sein.“
„Wir müssen zunehmend interdisziplinär denken, auch über die Gesundheitsberufe hinaus um die Versorgungsprobleme zu lösen “, betont Prof. Dr. Ulrike Höhmann von der privaten Universität Witten/Herdecke. Dafür müssten zunächst disziplinäre Kompetenzen erlangt werden, um gleichzeitig den Wert und die Grenzen der eigenen Disziplin erkennen zu können. Genau darauf zielt der berufsbegleitende Masterstudiengang „Multiprofessionelle Versorgung von Menschen mit Demenz und chronischen Einschränkungen“ ab. Sechs Semester lang studieren hier seit 2012 Gesundheits- und Nichtgesundheitsberufe zusammen, um gemeinsam an neuen Versorgungskonzepten zu arbeiten: wie Pflegewissenschaftler, Mediziner, Physiotherapeuten und Sozialpädagogen mit Architekten, Historikern und Ökonomen. „Die Resonanz der ersten beiden Absolventenjahrgänge ist
positiv“, weiß die Lehrstuhlinhaberin. Die Absolventen erhielten nach ihrem Studium einen Karriereschub, stiegen auf, bekämen anspruchsvollere Arbeitsfelder bei meist größeren Einrichtungsträgern oder machten sich auch selbstständig.
Einige Arbeitgeber schicken sogar regelmäßig Mitarbeiter nach Witten. Denn fester Bestandteil des Studiums ist ein Projekt, in dem über drei Semester – auch in der eigenen Einrichtung – neue Problemlösungen wissenschaftlich begleitet und vorangetrieben werden.
Beispielsweise haben Architekten, Ärzte und Pflegewissenschaftler gemeinsam ein Klinikraumkonzept entwickelt, das den Bewegungsdrang von
an Demenz erkrankten Patienten unterstützt und ihnen gleichzeitig eine bessere Orientierung bietet. In einem anderen Projekt haben eine Pflegewissenschaftlerin und eine Historikerin umfangreiche Werbe- und Informationskampagnen gestartet, um Menschen mit Demenz in Privathaushalten zu mehr kultureller Teilhabe an speziellen Kulturangeboten zu motivieren.
Die Gebühren für das Studium betragen pro Semester 2.000 Euro. Vorteil der Privatuni: „Wir können hier sehr schnell Innovationen umsetzen und begleiten die Studierenden intensiv in kleinen Gruppen“, sagt Höhmann.
Aktuell ist die Uni Witten/Herdecke bundesweit die einzige Hochschule, die ein solches Studienkonzept anbietet. 15 Studierende können in jedem Wintersemester starten.
Besonders spannend sei es zu Beginn des Studiums, die unterschiedlichen Berufsgruppen auf eine gemeinsame Ebene zu bringen. „Ein Arzt hat ein
völlig anderes Verständnis von einer Demenz als ein Architekt. Ähnlich verhält es sich mit dem Forschungsverständnis“, verdeutlicht Höhmann. Die Berufsgruppen lernten viel voneinander, um dann gemeinsam wie Schloss und Schlüssel miteinander zu arbeiten.
„Zum jetzigen Zeitpunkt wird interprofessionelles Lernen in vielen Studiengängen allerdings noch mithilfe von Projekten und Modellen umgesetzt“, weiß
Dr. Peter A. Zervakis, Koordinator des Projekts „nexus – Übergänge gestalten, Studienerfolg verbessern“ der Hochschulrektorenkonferenz in Bonn. Für Pflege, Medizin, Therapie und Hebammenkunde stelle sich hier die besondere Herausforderung, dass die medizinischen Studiengänge ausschließlich an Universitäten angesiedelt seien, die Gesundheitsfachberufe aber primär an Fachhochschulen und Hochschulen für angewandte Wissenschaften.
„Eine mögliche Lösung sind beispielsweise Kooperationen in Form eines Gesundheitscampus zwischen Universitäten und Fachhochschulen“, erläutert Zervakis. Auf diese Weise wolle man die klinische Anbindung der Studiengänge für akademisierte Gesundheitsfachberufe erreichen.
Ein Beispiel dafür ist die seit Ende 2011 3 laufende Kooperation der Hochschule für Gesundheit (hsg) und der Ruhr-Universität Bochum (RUB), die seit Ende 2013 den Projektnamen „IPHiGen – Interprofessionelles Handeln im Gesundheitswesen“ trägt. Studierende einer der fünf grundständigen hsg-Bachelorstudiengänge Ergotherapie, Hebammenkunde, Logopädie, Pflege oder Physiotherapie und RUB-Medizinstudenten lernen zusammen. Studierende beider Hochschulen nehmen an Kleingruppen-Seminaren und Plenumsveranstaltungen teil. Schwerpunkte bilden die Themen Gesundheitsversorgung, Patientensicherheit, Nutzer- und Teamorientierung. Didaktisch werden die Seminare mit Gruppendiskussionen, Recherchen, Fallbeispielen und Präsentationen aufbereitet.
Die Erfahrungen und auch die Nachfrage nach dem Projekt sind so gut, dass ab Sommersemester 2019 die gemeinsamen Lehrveranstaltungen fest in die genannten Studiengänge eingebunden werden.
Der interprofessionelle Ansatz biete die Chance, sich mit den Ansätzen und Perspektiven unterschiedlicher Professionen auseinanderzusetzen, sagt Prof. Dr. Sven Dieterich. Er ist Professor für Gesundheitswissenschaften an der hsg und einer der Projektleiter von IPHiGen. Der Austausch erfolge auf Grundlage von Fällen nach Aktenlage oder auch in der Arbeit mit Simulationspatienten. „Damit wird das Rollenverständnis geschärft und die Studierenden erkennen, wie wichtig es ist, sich interprofessionell auszutauschen“, sagt er.
Die Rückmeldungen der Studierenden bestätigten dies. Die 21-jährige Maida Mehmedovic etwa studiert im fünften Semester Pflege an der hsg und
sagt: „Das interprofessionelle Arbeiten ist für eine optimale Patientenversorgung wichtig. Es ist gut, dass wir das schon im Studium lernen.“
Interprofessionelle Ausbildung und fachliche Spezialisierung seien dabei keine Widersprüche, betont Dieterich. „Die einzelnen Professionen müssen
sich fachlich und insbesondere wissenschaftlich weiterentwickeln, um ihr Potenzial für die Versorgung zu entfalten. Das gelingt umso besser, je klarer die
Schnittstellen zu anderen Professionen erkannt und gegebenenfalls auch neu ausgehandelt werden“, ist sich Dieterich sicher. „Interprofessionelles Arbeiten ist dabei immer einer verbesserten patientenzentrierten Versorgung verpflichtet.“
Positive Erfahrungen gesammelt in Sachen berufsgruppenübergreifender Ausbildung hat auch Ricarda Walk an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg im Studiengang „Interprofessionelle Gesundheitsversorgung“. Beruflich bedingt habe ihr das Studium einen klaren Vorteil verschafft, sagt die 24-Jährige. Derzeit arbeitet sie in einem interdisziplinären Ärzte- und Pflegeteam in der Zentralen Notaufnahme im Krankenhaus Rummelsberg. „Gerade in der Notfallversorgung kommt es auf die Zeit an, die man durch optimierte Zusammenarbeit verkürzen kann“, so die Gesundheits- und Krankenpflegerin. Allerdings merkt sie auch an, dass es noch keine genaue Stellenbeschreibung und somit auch keine Tarifgruppierung für Personen mit ihrer Qualifikation gibt. Das sei schade. Aber sie würde sich wieder für diesen Weg entscheiden, denn: „Im Alltag hat mir das Studium geholfen, verschiedene Professionen kennenzulernen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu entdecken, Schnittstellen wahrzunehmen und diese effektiv zu nutzen.“
Auch bei Fortbildungen ist die interprofessionelle Ausrichtung im Aufwind. Neben dem Angebot der B. Braun-Stiftung (S. 18) gibt es beispielsweise
schon seit fast zwei Jahrzehnten die bundesweit anerkannte Weiterbildung zum OP-Manager (IHK), die über das Bildungszentrum Kassel und die Diomedes GmbH angeboten wird. „Den interprofessionellen Ansatz haben wir von Anfang an verfolgt“, betonen Diomedes-Geschäftsführer Sabina Klein und Dr. Martin Felger.
In diesem Jahr findet die Qualifizierungsmaßnahme bereits zum 34-igsten Mal statt. „Unsere Kurse sind immer ausgebucht“ sagt Felger und ergänzt:
„Die sehr positiven Rückmeldungen der Teilnehmer bestärken uns in unserem Konzept.“
Teilnehmer der Weiterbildung sind zu zwei Drittel Pflegende und zu einem Drittel Ärzte, jeweils aus dem OP-Bereich von Kliniken und ambulanten
OP-Zentren. Dabei seien nahezu alle Hierarchiestufen vertreten – vom Chefarzt über den Assistenzarzt bis hin zum Leiter der Funktionsdienste und Medizinischen Fachangestellten.
In Gruppen von maximal 18 Personen stehen neben OP-Management-Grundlagen die wichtigsten betriebswirtschaftlichen Aspekte, Personalführungsthemen und das erfolgreiche Veränderungsmanagement in einem multiprofessionellen Rahmen auf dem Programm. Die Teilnahmegebühr für die sich über rund vier Monate erstreckende Qualifizierungsmaßnahme beträgt knapp 3.000 Euro, zusätzlich Prüfungsgebühr
von 180 Euro.
Wenn die interprofessionelle Zusammenarbeit klappt, hat das auch Vorteile für Patienten: „Sie fühlen sich wohler und merken, dass Hand in Hand
gearbeitet wird. Es passieren weniger Fehler und es wird schneller gearbeitet, ohne dass die Mitarbeiter das stressiger empfinden“, weiß Klein.
Wie die Beispiele zeigen, gibt es mittlerweile viele gute Ansätze in Sachen interprofessionelles Lernen. Allein die Robert Bosch Stiftung fördert derzeit elf
Projekte mit Fokus auf „interprofessionelle Fortbildungen in den Gesundheitsberufen“ und weitere siebzehn Projekte mit dem Schwerpunkt „Interprofessionelles Lernen in den Gesundheitsberufen“ – darunter auch das IPHiGen von hsg und RUB.
Die über Jahrzehnte gewachsenen Barrieren zwischen den Berufsgruppen im Gesundheitsbereich müssen abgebaut werden. Darin sind sich Studienkoordinatoren und Seminaranbieter einig. Gemeinsames Ziel dieser Bemühungen: Kompetenzen der Zusammenarbeit fördern, gegenseitig Arbeitsbedingungen kennenlernen und ein grundlegendes Verständnis für die spätere berufliche Tätigkeit der anderen fördern. Dann klappt nicht nur das Arbeiten im multidisziplinär zusammengestellten Team, sondern die Patientenversorgung insgesamt verbessert sich.